Rede: "Demokratie lernen in der Schule: Wie weit sind wir?"












Sylvia Löhrmann ist Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Bild: Klaus Wolschner





27. März 2013

Sylvia Löhrmann




Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freundinnen und Freunde,


Kennen Sie das perfekte Rezept für Pizza?


Vielleicht. Viele von uns werden es kennen – und jedes dieser Rezepte wird sich voneinander – mal mehr, mal weniger – unterscheiden. Und doch ist es für uns jeweils das Perfekte. Doch bei allen Unterschieden gibt es Zutaten, die gehören einfach dazu: Mehl, Wasser, Olivenöl, Hefe, Tomaten, Oregano. Das sind so die Grundzutaten für eine perfekte Pizza, und je nach Geschmack noch das ein oder andere mehr.


Nicht dass Sie glauben, ich habe Hunger.


Nein, aber es gibt viele Parallelen zum perfekten Rezept für Demokratie lernen in der Schule. Jede Schule braucht ihr eigenes Rezept, sogar jede Lehrerin und jeder Lehrer wird es ein wenig anders anlegen. Die einen lieben eine Schnellgarmethode, die andere setzen auf Niedrigtemperatur und lassen sich mehr Zeit mit dem Kochen. Und jeder Schülerin und jedem Schüler wird es so oder so besser schmecken. Das Rezept gelingt nur mit der richtigen Haltung. Wir ernten für das Individuum eine hohe soziale Kompetenz, für die Schule ein neues Miteinander und für die Gesellschaft Menschen, die Demokratie erlernt und erlebt haben.


Was sind die Grundzutaten des Rezeptes? Man nehme zunächst Verantwortung. Die Lehrerinnen und Lehrer übergeben sie an die Schülerinnen und Schüler. Dazu gehört eine Portion Zutrauen und Selbstständigkeit. Das müssen Lehrkräfte ermöglichen, Schülerinnen und Schüler erlernen. Jede Menge Toleranz sollten die Lehrkräfte vorleben, damit Schülerinnen und Schüler sie auch entwickeln können. Es folgt ein Eimer voll Zivilcourage, die müssen alle zeigen. Und wenn Schülerinnen und Schüler sie zeigen, sollte die Schule das würdigen. Zu Verantwortung gehört auch Partizipation, und zwar formal wie informell. Einen Schuss Mitdenken erfordert es von jedem, hier ist es hilfreich, wenn die Lehrkräfte dies von ihren Schülerinnen und Schülern auch verlangen und einfordern. Und schließlich Mitreden: Wenn Schülerinnen und Schüler mitreden sollen, müssen Lehrkräfte Mitreden auch zulassen.


Wie sieht das Rezept der Landesregierung in Nordrhein-Westfalen nun ganz konkret aus? Was geben wir den Schulen, Schulleitungen, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern an die Hand? Da ist zunächst das nordrhein-westfälische Schulgesetz. Als Erziehungsziele sind ausdrücklich die  „Achtung vor der Überzeugung des anderen“, die „Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen“ sowie die „Friedensgesinnung“ genannt. Mit dem Beschluss des Landtags vom Februar 2012 über ein „Teilhabe- und Integrationsgesetz“ kam ein weiterer Punkt hinzu: „Menschen unterschiedlicher Herkunft vorurteilsfrei zu begegnen, die Werte der unterschiedlichen Kulturen kennenzulernen und zu reflektieren sowie für ein friedliches und diskriminierungsfreies Zusammenleben einzustehen“. Dies ist eine große und vorerst theoretische Herausforderung. Konkret wird es, wenn wir gezielte Maßnahmen zur besseren Beteiligung von Schülerinnen und Schülern und Eltern einführen.


Das ist die zweite Zutat: Teilhabe. Bereits 2010 haben wir nach der Übernahme der Regierung in Nordrhein-Westfalen das Schulgesetz geändert und die Drittelparität in den Schulkonferenzen wieder eingeführt, damit Schülerinnen und Schüler und Eltern wieder mehr Beteiligungsmöglichkeiten und Gewicht an Entscheidungen in den Schulen haben. Denn demokratisches Bewusstsein wird am besten mit der Teilhabe an demokratischen Prozessen erlernt. 


Ein besonderes Beispiel ist unser Schulkonsens. Der wurde nur möglich, weil wir alle am Schulleben Beteiligte in einer Bildungskonferenz zusammengerufen haben und über die Zukunft der Schule gesprochen haben – und zwar so, dass fast alle am Ende gemeinsame Empfehlungen an die Politik mitgetragen haben. Und dass wir es etwa geschafft haben, den Philologenverband, die GEW und den VBE nicht nur an einen Tisch zu kriegen, sondern auch zu gemeinsamen Empfehlungen, war der Grundstein dafür, dass die CDU mit uns den Schulkonsens eingegangen ist.


Ich komme nun zur dritten Zutat unserer demokratischen Pizza: Die pädagogische Forschung hat unter Führung von Prof. Dr. de Haan für die Grundlage der Demokratiepädagogik den Begriff der Gestaltungskompetenz entwickelt. Gestaltungskompetenz reagiert darauf, dass Kinder und Jugendliche heute mehr als 70 % dessen, was sie lernen, nicht in der Schule, sondern in einer Jugendgruppe, im Verein oder zu Hause lernen, in den Medien, von ihren Eltern sowie von ihren Freundinnen und Freunden. Sie bringen eine Fülle von Einschätzungen und Meinungen, Urteilen und Vorurteilen, Sorgen und Ängsten in die Schule mit. Gestaltungskompetenz greift die Komplexität unserer Welt auf. Denn je komplizierter der Inhalt, umso drängender stellt sich die Frage nach der Berechtigung von Atomenergie, erneuerbaren Energien, Gentechnik, Stammzellenforschung. Ob aber das, was im Biologie-, Physik- oder Chemieunterricht dazu gesagt wird, beispielsweise zu den Botschaften des Geschichts- oder Religionsunterrichts passt, ist damit noch lange nicht gesagt.  Gestaltungskompetenz will Kindern und Jugendliche die Fähigkeit vermitteln, sich wie in einer unübersichtlichen Welt voller Vorläufigkeiten zu orientieren.

Kinder und Jugendliche müssen möglichst früh lernen, auf welcher Grundlage man oder frau Entscheidungen treffen kann. Sie müssen lernen, unter den vielen verschiedenen Informationen Fakten und Meinungen zu unterscheiden.


Die Botschaft der Demokratiepädagogik und der nachhaltigen Entwicklung ist eindeutig: Wir dürfen nicht an der Komplexität der Probleme verzweifeln, sondern müssen die Welt als gestaltbar begreifen. Gestaltungskompetenz ist schließlich Kern von Demokratiepädagogik. Gerade habe ich in Dortmund eine nachgestellte UN-Vollversammlung eröffnet. Eine wunderbare Veranstaltung, in der sich Schülerinnen und Schüler in die Positionen verschiedener Länder hineinversetzt haben, und dann mehrere Tage auf Englisch zu globalen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Themen Resolutionen stellen, Kompromisse verhandeln und diskutieren. Und das alles haben die Schülerinnen und Schüler selbst organisiert. Die vierte Zutat: Zur Demokratie gehören Widerspruch und Opposition. Wir müssen in der Schule lernen, Alternativen zu formulieren und Widersprüche auszuhalten.


Kommen wir wieder zurück zur Pizza. Was nützt es, wenn wir ein Rezept haben, bescheiden unsere Pizza backen, aber niemand möchte sie essen, denn sie könnte ja der Gesundheit schaden. Was nützt der Erfolg des schulischen Streitschlichtungsprogramms, wenn wir die andauernden Auseinandersetzungen in den Konfliktherden dieser Welt betrachten?  Mit den Methoden eines Streitschlichtungsseminars kann man die Konflikte um Afghanistan, im Kongo oder zwischen Israel und Palästina nicht lösen. Das sind keine fiktiven, sondern reale Fragen von Kindern und Jugendlichen, auch wenn Erwachsene manchmal meinen, dass Kinder und Jugendliche gar nicht von selbst auf solche komplexen Zusammenhänge kämen. Aber die Widersprüche dieser Welt lassen sich nicht aus der Schule verbannen.


Ich rate dazu, den Widerspruch zwischen der vielleicht kleinen Reichweite eines demokratisch beschlossenen Schulprojekts und der großen Reichweite der in den Medien übermittelten Weltprobleme im Unterricht und in Projekten zu thematisieren. Gehen wir offen mit den Ängsten und Sorgen, den Träumen und Fantasien unserer Schülerinnen und Schüler um. Das erst macht doch Schule zu dem Ort, der sie sein soll: ein Ort der Entwicklung kompetenter und starker, demokratisch denkender und handelnder Persönlichkeiten. 


Die fünfte Zutat liefern die Kinder und Jugendlichen selbst: ihre Bereitschaft zum Engagement. Unsere Kinder und Jugendlichen sind alles andere als unpolitisch. Vielleicht sind Parteien, Kirchen oder Gewerkschaften nicht mehr so attraktiv, wie sie das selbst gerne wären. Die Jugendforschung belegt, dass Kinder und Jugendliche sich gerne engagieren: für kranke und ältere Menschen, für konkrete Projekte zum Umweltschutz oder im sozialen Bereich, für Gerechtigkeit im Freundeskreis und in der Schule. Das sollten wir wertschätzen. Das sollten wir fördern.


Meine Vision für die Schule: Die Schulen der Zukunft sind demokratische Schulen, in denen Partizipation und Engagement für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte Lehrplan, Unterricht, Projekte und Schulkultur prägen. Je mehr Schule vom Lehr- und Lernraum zur Schule als Lebensraum für alle Kinder – unabhängig von Fähigkeiten, Fertigkeiten, Herkunft oder Behinderungen – wird, desto mehr können unsere Kinder dies erfahren und einüben.

Jede Pizza ist anders: Bei Pizza mag ich am liebsten bunte Beläge. Und damit bin ich bei der Zutat: „Inklusion“. Ich verstehe Inklusion als einen weiten Begriff. Er umfasst das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen, von Jungen und Mädchen, von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft. Wenn wir die Vielfalt in unseren Schulen als Chance begreifen und die vielen Potenziale erkennen und nutzen, die die Kinder und Jugendlichen in unseren Schulen mitbringen, besteht die Chance zu einer echten „Inklusion“, die kein Kind zurücklässt, alle mitnimmt, alle nach ihren Bedürfnissen und unterschiedlichen Fähigkeiten. Und das erreichen ich und wir, wenn wir die Kinder und Jugendlichen aktiv beteiligen.


Hier verbinden sich unsere Zutaten zu einem leckeren Gericht: Demokratie, Teilhabe, Gestaltungskompetenz, Widerspruch, Bereitschaft zum Engagement, gelebter Inklusion; und damit sind wir auch bei einer weiteren Zutat: der Offenheit, wie sie zu einer offenen Gesellschaft im Sinne Karl Poppers gehört.


Als ich anfangs sagte, ich hätte keinen Hunger, war das nur die halbe Wahrheit. Ich habe Hunger. Hunger nach mehr Demokratie. In der Welt, und auch in unserer Gesellschaft. Eines der wichtigsten Fundamente unserer zukünftigen Gesellschaft legt die Schule. Überall dort, wo Bildung gefördert wird, gibt es mehr Gerechtigkeit, weniger Armut, weniger Not.  Eine der größten Erfolgsgeschichten ist dabei die Bildung von Mädchen und jungen Frauen, nicht nur bei uns, auch in den so genannten Entwicklungsländern. Und warum sollte das in unserer kulturell vielfältigen Welt nicht auch in anderer Hinsicht gelingen? Deshalb: Wer die Demokratie zukunftsfest stärken und entwickeln will, muss damit früh beginnen, in den Schulen, in den Kindertageseinrichtungen, im Gespräch mit den Familien.


In Nordrhein-Westfalen wollen wir demokratische Schulen stärken – und machen deshalb auch eine Politik der Beteiligung und nicht des Durchregierens. Wir geben Verantwortung an die Kommunen und Schulen ab, so, wie wir es auch von den Lehrkräften in den Schulen gegenüber den Schülerinnen und Schülern erwarten.  Demokratie lernen – das ist keine Aufgabe, die sich nur an unsere Schülerinnen und Schüler, nur an unsere Lehrkräfte, nur an unsere Schulen richtet. Das ist eine Aufgabe auch für Politik, Regierung und Verwaltung.


Ihr wisst, was der Schulkonsens in Nordrhein-Westfalen bewirkt hat. Das ist ein neues Politikmodell, das versucht, einen Konsens durch Partizipation zu erreichen, auch mit denjenigen, die eigentlich völlig konträre Positionen zu vertreten scheinen. Die Zahl der neuen Sekundarschulen und Gesamtschulen belegt den Erfolg dieses Modells. Über 70 Schulen des längeren gemeinsamen Lernens in zwei Jahren. Und deshalb sollten wir auch in der Schule daran arbeiten, solche Politik-Modelle auch in der Schulgemeinde zu etablieren. Wenn das gelingt, schaue ich zuversichtlich und optimistisch in die Zukunft der Demokratie, hier bei uns und in anderen Ländern.


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Sylvia Löhrmann ist Ministerin für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Die Rede hielt sie zum Werkstattgespräch "Demokratiereformen in den Ländern - Stand und Perspektiven" am Freitag , 15. Februar 2013.


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